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Artenvielfalt: Eine goldene Chance

La Semana | | Artikel drucken
Lesedauer: 6 Minuten

Kolumbien verfügt mit seiner vielfältigen Flora und Fauna über die Chance, ein neues Wirtschaftsmodell zu entwickeln, das durch die Prinzipien von Nachhaltigkeit und menschlichem Wohlbefinden der kolumbianischen Bevölkerung zugutekommen würde.

Im zentralgelegenen Gebirge von Boyacá befindet sich Mongüa, eine Ortschaft nahe Sogamoso mit knapp 5.000 Einwohnern, die meist im Kartoffelanbau tätig sind. Diese Beschäftigung, die für viele Jahre ihr Lebensunterhalt gewesen war, brachte ihnen nun Probleme hinsichtlich Ökologie und zuverlässiger Nahrungsmittelversorgung. Durch ausschließliche Kartoffelpflanzung wurden andere einheimische Arten außer Acht gelassen, was zu deren Aussterben führte. Ganz zu schweigen vom übermäßigen Einsatz agrochemischer Mittel und Industriedünger in den Kartoffelbeständen, welche die Wasserzuflüsse kontaminiert haben.

Als sich die Lebensmittelvielfalt zusehends erschöpfte, begannen Landwirtinnen im Jahr 2011 eine Initiative anzuleiten, um Familien in der Umgebung zu ermuntern, weg von der Monokultur hin zum Anbau unterschiedlicher Produkte zu gehen und vor allem einheimische Arten anzupflanzen, die vom Aussterben bedroht sind, wie schwarze Kartoffeln, chavas, Rüben, Rubas, Ibias, verschiedene Getreidearten, wie roten Weizen und Grannengerste. Diese Praxis eint zurzeit 52 Bauernfamilien unter dem Namen „Hoher Andengarten“ und hat bewirkt, dass vierzig Prozent der Mitglieder auf ihrem Grundstück siebzig essbare Pflanzenarten kultivieren.

Täglich durchwanderten die Frauen des „Hohen Andengartens“ die Gegend auf der Suche nach einheimischem Saatkorn, um es dann unter den Mitgliedern zu verteilen. Dabei erweckten sie auch die Weisheiten und Praktiken der Vorfahren wieder zum Leben. Odilia Neita, die Leiterin des „Hohen Andengartens“, erzählt, dass sie den Tauschhandel aufrecht erhielten, damit Familien eine größere Menge Saatgut erhalten können, ohne dabei eine Riesensumme investieren zu müssen. Ebenso wurden alte Rezepte wieder aufgegriffen, die für die einheimischen Pflanzen gedacht waren. Außerdem förderte der Verein Gemeinschaftsarbeit, um Wassersammelbecken und Bewässerungssysteme zu bauen, sowie eine nachhaltige Landwirtschaft im Einklang mit der Umwelt.

Der Erfolg des „Hohen Andengartens“ spiegelt sich zum einen darin wider, dass Kulturpflanzen und Traditionen bewahrt werden und gleichzeitig die Ernährungssicherheit verbessert wird. Zum anderen produzieren seine Mitglieder Überschüsse an Nahrungsmitteln, die auf den Märkten von Tunja verkauft werden und eine zusätzliche Einnahmequelle für die Bauern Mongüas darstellen.

Diese Erfahrung beweist, dass die Artenvielfalt einer Region und deren nachhaltige Nutzung zur Verbesserung des Lebensstandards auf dem Land oder abseits großer Stadtzentren beitragen können. Die Arbeit dieser Frauen erreichte außer der Erhaltung der Ökosysteme im Gebirge Boyacá auch noch den sicheren Zugang zu einer Vielfalt an Lebensmitteln.

Außerdem festigt die biologische Vielfalt in bester Weise die Lebensstile traditionsreicher indigener, afrokolombianischer oder bäuerlicher Gemeinschaften und fördert ein neues Modell umweltfreundlicher Wirtschaft. Laut dem Programm der Vereinten Nationen für Umwelt, stellt die nachhaltige Nutzung und Erhaltung der Artenvielfalt die beste Möglichkeit für Länder dar, um die Armut zu senken, das menschliche Wohlbefinden zu heben und Entwicklung zu fördern. In dieser Hinsicht hat Kolumbien große Chancen. Mit 564.343 beschriebenen Arten beherbergt das Land wahrscheinlich zehn Prozent der weltweiten Biodiversität und steht bei Orchideen und der Vogelwelt an erster Stelle; den zweiten Platz belegt es bei Pflanzen, Amphibien, Süßwasserfischen und Schmetterlingen, den dritten bei Reptilien und Palmen und den vierten bei Säugetieren.

Kolumbien_Artenvielfält_Bild_Quetzal-Redaktion_gcIn Kolumbien dient die biologische Vielfalt nicht nur dem gesicherten Fortbestehen von traditionellen Gemeinschaften. In Chocó zeigen die Biologinnen Mabel Torres und Aura González zusammen mit der Verwalterin Yini Cuesta auf, wie die nachhaltige Nutzung von einheimischen Arten der Region Produzenten- und Handelsketten fördern kann, an denen benachteiligte Gemeinschaften mitwirken können. Von ihnen wurde Selvacéutica gegründet, ein Unternehmen, das aus Früchten, Samen und Baumrinde, z.B. vom Borojó, Asaí, Kurkuma und dem Annattostrauch, kosmetische Produkte herstellt, die frei von Erdölderivaten sind.

Sie vereinen uralte Kenntnisse der Gemeinschaften in Chocó mit der Wissenschaft, um Kosmetikartikel wie Seife, antibakterielle Mittel, Gesichtsreinigungstücher und hautberuhigende oder schmerzlindernde Salben zu erzeugen. Die Produktionskette umfasst jetzt schon über rund 400 Familien aus Kommunen wie Bahía Solano, Bojayá, Atrato und Quibdó, die Pflanzenarten anbauen, aus denen Früchte und Samen für die spätere Weiterverarbeitung und den Vertrieb bei Selvacéutica gewonnen werden. Dank der Ernteeinnahmen können die Familien sich ernähren und die lokale und regionale Wirtschaft in Schwung bringen.

Diese Erfahrung im Handel ermöglichte es den Familien in Chocó, von denen viele Opfer von Waffengewalt waren, zu erkennen, dass sie unerlaubter Arbeit wie dem Koka-Anbau oder dem illegalen Bergbau nicht nachgehen müssen, um zu überleben, sondern dass biologische Vielfalt ihren Lebensstandard verbessern kann. „Der Werdegang von Selvacéutica gibt nicht nur Hunderten von Familien die Chance, von der regionalen Biodiversität zu leben, sondern lässt auch das Produktions- und Marktpotential von Chocó nicht außer Acht”, erklärt Mabel Torres.

Aber die nachhaltige Nutzung der Artenvielfalt kann auch auf eine höhere technische Ebene gehoben werden, nämlich durch Biowirtschaft, die kurz gesagt, alle Tätigkeiten im Rahmen der Erfindung und Entwicklung von technologisch anspruchsvollen Produkten und Dienstleistungen basierend auf organischer Biologie erfasst. In Kolumbien hat die Firma Colorganics, die sich auf die Herstellung natürlicher Farbstoffe spezialisiert, vor ein paar Jahren diesen Weg eingeschlagen.

Dieses Unternehmen aus Antioquia nutzt den Annattostrauch, der fair von Einwohnern in Curvaradó abgekauft wurde, um durch Biotechnologie Bixin zu extrahieren, einen natürlichen Farbstoff für Lebensmittel und Kosmetikartikel, der anders als die meisten auf dem Markt erhältlichen weder Einschränkungen noch Nebenwirkungen aufweist. Die Eigenschaften des Annatto-Farbstoffs erregten die Aufmerksamkeit der Keksindustrie von Noel, die ihn zur Gelbfärbung seiner Salz-, Käse-, und Butterleckereien einsetzte. Der Erfolg des Annatto ist so groß, dass eine weite Nachfrage in Europa besteht. Dank seiner wissenschaftlichen Forschungen verfügt Colorganics über eine Bandbreite an natürlichen Farbstoffen mit hohem technologischen Wert, wie zum Beispiel den grünen Farbstoff aus Chlorophyll der Alfalfapflanze. Der „Hohen Andengarten“, Selvacéutica und Colorganics verdeutlichen, wie die nachhaltige Nutzung der Artenvielfalt den Lebensstandard in einer Region, dabei gleichzeitig Forschung und neue Industrien, und somit letztendlich die wirtschaftliche Entwicklung verbessern kann. All diese Erfahrungen zeigen auch, dass diese neue Wirtschaftsform verstärkt den verwundbarsten Bevölkerungen zugute kommt.

Im Gegensatz zum jetzigen nutzbetonten Wirtschaftsmodell Kolumbiens, das vielfach der Umwelt Wunden zufügt, dient der nachhaltige Umgang mit der Artenvielfalt einer Balance zwischen Fortschritt und Tradition, von dem alle KolumbianerInnen profitieren können. Mit der Bioökonomie hat der Antagonismus zwischen Gemeinschaften, Traditionen und ausbeuterischen Industrien ein Ende. Wie im Fall von Colorganics und Selvacéutica wissen EinwohnerInnen wie Industrielle, dass der Geschäftserfolg in der Zusammenarbeit und im Schutz der Biodiversität liegt.

Kolumbien zählt zu den Ländern mit dem größten Artenreichtum der Welt. Trotzallem bleibt die Artenvielfalt für die Bevölkerung etwas Ungreifbares, das irgendwo tausende von Kilometern weit in den Wäldern existiert. Aber sie ist da; in den Steppen, in den Wäldern, im Gebirge oder in der Nähe der Städte. Und auch wenn es auf den ersten Blick nicht so aussieht, sind die KolumbianerInnen zum Überleben auf sie angewiesen. Nachhaltige Nutzung ist der beste Schutz.

 

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Original-Beitrag aus La Semana vom 28.10.2017 (Ausgabe 1852). Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung der Zeitschrift.

 

Übersetzung aus dem Spanisch: Uta Hecker

Bildquelle: Quetzal-Redaktion, gc

 

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